Die ersten Wochen in der Schweiz

5. April – 23. Mai

Vor meiner Reise nach Russland zerbrach ich mir den Kopf, wie es nach der Behandlung bei mir zu Hause weitergehen könnte. Zum einen war nicht vorauszusehen, wie es mir nach der Transplantation gehen wird. Und: Wo war ich am besten aufgehoben – vielleicht in einem Spital? Nach diversen Gesprächen mit MS-Betroffenen aus der Schweiz, die sich auch in Moskau behandeln liessen, kristallierte sich heraus, dass es für mich am besten war, wenn ich mit der  Unterstützung der Spitex in meiner Wohnung bleiben würde.

 

Die ersten drei Monate nach der Behandlung gestalteten sich wie folgt: Im ersten Monat war ich zu Hause in der Quarantäne. Der zweite und der dritte galten weiterhin als Erholungszeit von der Behandlung. Während dieser Zeit war mit grossen Schwankungen zu rechnen.

So, 5. April, Rückreise von Russland

In welchem Zustand ich war? Nun, ich konnte nicht selber ins Bett steigen und es verlassen, war in der Nacht auf einen Katheter angewiesen, konnte nicht selbständig aufs Häuschen gehen, beim An- und Abziehen meiner Kleider war ich auf Hilfe angewiesen.

Am Morgen kam ein Mitarbeiter der Spitex vorbei und wir besprachen das weitere Vorgehen. Da ich vieles nicht selber machen konnte, kam sie vorerst vier Mal täglich vorbei: Morgens, vor dem Zmittag, am Nachmittag, abends.

Anschliessend kam auch meine Schwester vorbei. Sie offerierte mir, zusammen mit meinem Bruder und seiner Frau, fürs Essen und für Gesellschaft zu sorgen. Untereinander würden sie das organisieren. Dass immer jemand zum Zmittag und Znacht da war. Und dass vorläufig auch in der Nacht jemand bei mir in der Wohnung schlafen würde. Ich nahm das Angebot dankend an. Es berührte mich wie rührend sich meine Geschwister in den nächsten Wochen für mich sorgten!

Das  jetzt die ganze Schweiz im Lockdown war, kam mir sehr gelegen: Dadurch hatten die Geschwister Zeit, mich so stark zu unterstützen, da sie nicht wie gewohnt zur Arbeit gehen konnten. Ohne Lockdown wäre diese Unterstützung nicht möglich gewesen.

Meine Nachbarn schrieben dieses herzige Plakat
Di, 7. April
Fast den ganzen Nachmittag verbrachte ich im Spital Burgdorf: Meine Neurologin wollte sicher sein, dass bei mir alles in Ordnung war und liess mich gründlich untersuchen. Meine Blutwerte wurden gemessen, ich wurde geröntgt, auf Corona getestet, etc. Resultat: Alles in Ordnung.
Karfreitag, 10. April
Heute konnte ich zum ersten Mal seit meiner Transplantation wieder selbständig aufs WC – ein grosser Schritt!
Zu Beginn legten alle, die zu mir kamen, Masken an
Karsamstag, 11. April
Weil ich ab heute mehr Kraft in den Beinen und im Oberkörper hatte und deshalb selbständig aus dem Bett steigen konnte, passte ich mit der Spitex einen neuen Rhythmus an: Nachmittags kam sie jetzt anstatt täglich nur noch drei Mal die Woche vorbei. Nach wie vor besuchte sie mich täglich morgens und abends. Mein Jüngster kam vorbei und schenkte mir einen dunklen Schoggiosterhasen, er meinte: «Weisst du Daddy, viel kann ich nicht für dich machen – aber einen Osterhasen kann ich dir schenken. Wenigstens das kann ich für dich tun!»

Mein Jüngster ...
... mit dem Schoggiosterhasen
Mi, 15. April

Das erste Mal heute, dass der Physiotherapeut zu mir nach Hause kam. Wegen der Quarantäne verliess ich meine Wohnung nicht. Nach längerem telefonieren fand ich einen Physiotherapeuten, der Hausbesuche macht.

Vor ein paar Tagen fiel mir auf, dass mir seit der Rückkehr aus Moskau keine Bart- und Schnauzhaare mehr wachsen. Eigentlich ganz praktisch: So brauche ich mich im Moment nicht zu rasieren.

Wie dieses Baby habe ich keine Haare auf dem Kopf und brauche mich nicht zu rasieren ...
Fr, 17. April

Mit einer Kollegin und einem Kollegen am Telefon gesprochen, die vor rund anderthalb Jahren zur MS-Stammzelltransplantation in Moskau waren. Bei beiden sei die MS gestoppt worden. Die Kollegin könne keine Verbesserung feststellen, der Kollege schon. Er habe zum Beispiel mehr Kraft in den Beinen und könne wieder Klavier spielen. Ich sehe: Wie es nach der Transplantation weiter geht ist sehr unterschiedlich. Aber bei beiden scheint die MS aufgehalten worden zu sein.

Mo, 20. April

Zum ersten Mal kam die Ergotherapeutin zu mir nach Hause. Sie zeigte mir Übungen mit dem Theraband zur Stärkung des Rückens und der Arme. Zusammen machten wir Hand- und Fingerübungen. Sehr gut!

Ein Meilenstein: Am Abend konnte ich zum ersten Mal selber die Trainerhosen abziehen.

Fr, 25. April

Besuch bei meiner Hausärztin. Die Moskauer Klinik empfiehlt , nach der Behandlung in der ersten Woche und nach rund einem Monat die Blutwerte messen zu lassen. Das Ergebnis: Diese entsprechen nicht den Standartwerten eines normalen Erwachsenen, es sei aber festzustellen, dass die Werte höher seien als bei der letzten Kontrolle vor rund drei Wochen. Also alles in Ordnung.

Mo, 27. April
Seit gestern fühlte ich mich merklich schwächer. Merkte es vor allem in den Beinen und meiner rechten Hand.

Di, 28. April

Nach dem Zmittag konnte ich alleine nicht mehr ins Bett steigen, mein Bruder half mir dabei. Innert kürzester Zeit war ich merklich schwächer geworden. Was das wohl war? Nach dem Mittagsschlaf konnte ich plötzlich nicht mehr das Bett verlassen. Ich rief meinen Bruder an, der mit seiner Frau kam und mir in den Rollstuhl half. Ich konnte mir die plötzliche Schwäche nicht erklären. Auf Anraten meiner Schwägerin kontrollierte ich mit dem Fiebermesser meine Temperatur. Und tatsächlich: Ich hatte leichtes Fieber, eine Infektion! Woher denn nur? Um das Fieber zu senken nahm ich Dafalgan-Tabletten und rief die Notfall-Spitex an, die kurz darauf kam und mich um 18.00  ins Bett brachte. Um 21.30 kam sie erneut und die Temperatur war gesunken. Ich schlief gut und am anderen Tag war der Spuk vorbei.

Di, 5. Mai

Die Quarantäne war vorbei und heute verliess ich zum ersten Mal meine Wohnung. Dazu nahm ich mein Handbike und traf auf dem Veloweg auf meine 11-jährige Tochter, die mit Kolleginnen unterwegs war. Freudiges Wiedersehen.

Do, 7. Mai

Gestern sprach ich mit der Kollegin, die mit mir zur gleichen Zeit in Moskau war. Sie erzählte mir, dass sie gestern, weil sie zu schwach war,  den ganzen Tag das Bett nicht verlassen konnte. Sie, die sonst ganz normal zu Fuss unterwegs ist. Es tat mir sehr gut mit ihr auszutauschen. Wurde mir doch richtig bewusst, dass in den ersten drei Monaten – vielleicht auch länger – mit grossen Aufs und Abs zu rechnen ist.

Seit etwa zwei Wochen habe ich weniger Kraft in den Beinen. Heute Abend war ich völlig erschöpft, so dass ich nicht mehr einmal die Kraft hatte, meine Kleider auszuziehen. Ich wartete bis die Spitex vorbeikam und mir ins Bett half.

Di, 12. Mai

Gestern rasierte ich mich zum ersten Mal. Es waren nur ganz kleine und feine Härchen, die ich entfernte, nicht die üblichen Stoppeln.

Fr, 15. Mai
Heute war ich deutlich schwächer als sonst – was das wohl gewesen sein mag?
Sa, 16. Mai
Seit heute hatte ich wieder deutlich mehr Kraft. Und auch das ein grosser Schritt: In den letzten zwei Monaten war ich entweder in Spitalkleidern oder Trainerhosen und T-Shirt unterwegs. Und heute hatte ich das erste Mal wieder Jeans und ein Hemd an. Ein neues Lebensgefühl!
So, 17. Mai

Mit der 18-jährigen Tochter machte ich eine kleine Ausfahrt in der Umgebung. Sie mit ihrem Velo und ich mit meinem Handbike – einfach megacool! Sie erstellte dabei dieses Video:

Di, 19. Mai
Was mir auffällt: Ich brauche jetzt viel weniger Schlaf als bei meiner Rückreise. Damals waren es zehn bis elf Stunden. Jetzt sind es um die acht.
Fr, 22. Mai

Gestern sprach ich wieder mit der Kollegin, die zur gleichen Zeit wie ich die Behandlung machte: Vor drei Tagen hatte sie einen Einbruch und konnte den ganzen Tag das Bett nicht verlassen. Sie erzählte mir von den starken Schmerzen in den Füssen und Beinen, die sie vor der Behandlung quälten und ihr das Leben manchmal zur Hölle machten. Seit der Behandlung hat sie Tage an denen sie kaum etwas spürt und Tage an denen die Schmerzen wieder da sind. Aber: Alles in allem eine grosse Verbesserung für sie!
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Sa, 23. Mai

Seit einer Woche habe ich den Eindruck, kräftemässig wieder am gleichen Ort wie vor der Behandlung zu sein. Ob das so bleiben wird? Die Zeit wird’s zeigen …

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